Statistik deckt auf, wo & wie der Lockdown wirklich wirkt
Beinahe täglich hören wir, dass man ja leider nicht beurteilen könne, welche Lockdown-Maßnahmen wirklich wirken. Wir sind den Gegenbeweis angetreten: Unsere Studie ist mit dem Instrumentarium der Data Science in der Lage, klare Aussagen auf Basis der bestehenden Daten von RKI, Bundes- und Landesregierungen zu tätigen. Und zwar nicht nur dazu, ob “der Lockdown” wirkt, sondern welche Maßnahmen konkret welchen Beitrag leisten.
Eine Pioniersleistung – absurder Weise
Damit ist die explorative Untersuchung, die wir am 3. Mai als Whitepaper veröffentlicht haben, die erste ihrer Art überhaupt für Deutschland. Eine absurde Situation: In derselben Woche, in der Spitzenpolitiker jeder Couleur bei Lanz & Co. erneut die Unmöglichkeit solcher Erkenntnisse beschworen und Top-Medien wie die Tagesschau Hintergrundberichte zur “fehlenden Datengrundlage” brachten, schoss unsere Analyse in die oberen 20% aller jemals bei ResearchGate veröffentlichten Arbeiten und fand bald erhebliche Resonanz, u.A. in Tagesspiegel, Focus und Süddeutscher Zeitung.
Diese Gleichzeitigkeit zeigt: Was fehlt, ist mitnichten die Möglichkeit, mehr Transparenz und evidenzbasierte Entscheidungen in die Pandemie zu bringen. Das haben bereits auf internationaler Ebene mit ähnlicher Methodik Untersuchungen die “Machine Learning” Gruppe der Universität Oxford gezeigt, auch das RKI hat inzwischen eine entsprechende Untersuchung angestoßen, deren Veröffentlichung hingegen sich noch Monate ziehen soll (“erst die Pandemie, dann die Erkenntnisse”, ist man versucht zu sagen).
Was fehlt, ist ein solides Verständnis für Daten und Statistik – und eine Kultur der Transparenz und Rechenschaft. Darin unterscheiden sich Politik und Medien nicht sonderlich von vielen Unternehmen. Doch während die Wirtschaft dieses Defizit zunehmend erkannt hat und mit großen Schritten in Richtung Datenkompetenz und datengetriebene Steuerung strebt, hat man sich im Öffentlichen Sektor offenbar selbst in der Krise mit diesem Handicap eingerichtet, betrachtet es als Teil der Condition Humana. Das muss sich ändern!
Fakten statt Meinungen: Ergebnisse können helfen, Fehlsteuerung zu vermeiden
Wie nötig ein solcher Einstellungswandel ist, zeigen die Resultate unserer Studie: denn der gründliche, systematische Blick auf die Daten offenbart, wo Fakten der “öffentlichen Intuition” widersprechen – wo unpopuläre Maßnahmen dennoch richtig waren und wo vermeintlich vernünftige Maßnahmen das Gegenteil des Bezweckten bewirkten. Die markantesten Fälle dieser Art:
Einzelhandel und Gastronomie sind der wichtigste Hebel
Während im Frühjahr der Druck massiv stieg, bei Einzelhandel und Gastronomie zu lockern und das Risiko an diesen Orten von Vielen als eher gering bewertet wurden, erweisen sich genau diese Schließungen als das schärfste Schwert, um Todesfälle zu vermeiden. Dabei zeigten die vom RKI veröffentlichten Daten zu identifizierbaren Infektionsorten bisher nur einen sehr geringen Beitrag von Restaurants und Geschäften. So weisen unsere Daten auf einen doppelten “Mess-Bias” hin: nicht nur ist schon seit der 2. Welle ein Großteil der Infektionen nicht mehr zurückverfolgbar, womit Daten zum Infektionsort idR nicht repräsentativ sind. Auch lassen sich natürlich Infektionen in kontrollierbaren Umfeldern wie Altersheimen oder Schulen deutlich einfacher zurückverfolgen als in sehr volatilen, schwer greifbaren Umfeldern wie Supermärkten und Kneipen.
Ausgangsbeschränkungen wirken – eine Verschärfung von Kontaktbeschränkungen nicht
Die wohl unpopulärste Maßnahme in der Pandemie waren Ausgangsbeschränkungen. Nicht nur Kommentatoren und Opposition, auch viele Experten zogen die Wirkung solcher Maßnahmen in Zweifel, Klagen häuften sich. Doch unsere Ergebnisse belegen eine erhebliche Wirksamkeit solcher Einschränkungen. Gleichzeitig offenbaren die statistischen Untersuchungen, dass die Beschränkungen privater Kontakte zwar insgesamt deutliche Wirkung zeigen – dabei aber das konkrete Limit keinen Effekt hat. Sprich: ob man maximal 5 oder nur 1 Person außerhalb des eigenen Haushalts erlaubt, ist letzten Endes Symbolpolitik.
Kita-, Schul- und Hotelschließungen bewirken das Gegenteil: mehr Todesfälle
Mit Abstand der kontroverseste, meistdiskutierte Befund aus unserer Studie betrifft etwas, das wir “Babysitter-Effekt” genannt haben: Wir konnten belegen, dass die – emotional diskutierten, aber meist als “alternativlos” empfundenen – Schließungen von Kitas und Schulen nicht nur kaum einen Beitrag zur Senkung von Infektionszahlen geleistet haben… sondern dass sie paradoxer Weise zum Anstieg von Todesfällen insbesondere unter Senioren führten. Auch mehrere kritische Überprüfungen dieses Befundes konnten ihn nicht entkräften: offenbar steigen durch entsprechende Schließungen die Kontakte zu den Großeltern, mit oft fatalen Folgen. Deutlich schwächer, aber ebenfalls eindeutig ist ein ähnlicher Effekt für Hotelschließungen, vermutlich da Übernachtungen dann stärker im Privaten stattfanden, mit engerem Kontakt. Hier fanden eklatante Fehlsteuerungen in der Politik statt, die Menschenleben gekostet haben.
Mehr Sicherheit, weniger Schäden: lernt Deutschland aus der Krise?
Unsere Untersuchung geht weder in große Tiefe, noch zieht sie alle Register der Data Science. Sie ist mehr ein “Proof of Concept” als das letzte Wort. Dennoch konnte bereits diese erste “Grabung” entsprechend wichtige Hebel aufzeigen – einerseits, wie Menschenleben gerettet werden können, anderseits wie sich wirkungslose Interventionen in Wirtschaft und Bürgerrechte vermeiden lassen.
Im Blog der Republik hat unser Geschäftsführer daher eine Lanze dafür gebrochen, Statistikern, Data Scientists und Sozialwissenschaftlern ähnliches Gewicht beizumessen wie Virologen oder Physikern – in der Krise und darüber hinaus. Denn während es für gute Entscheidungen unerlässlich ist, die Wirkmechanismen im Labor zu verstehen (ob die Verbreitung von Aerosolen oder die Spike-Proteine eines Virus), ist es in jeder Hinsicht genauso wichtig, die Wirkung getroffener Maßnahmen (ob Lockdown, Impfkampagne oder öffentlichen Apellen) im Feld zu messen und richtig einzuschätzen.
“Wir werden einander viel zu verzeihen haben”, prophezeite Gesundheitsminister Spahn gegen Ende der ersten Welle. Das klang markant, doch ist für sich auch wohlfeil: Verzeihung verdient, wer Fehler eingesteht und daraus lernt. Die Voraussetzung dafür ist, Fehler überhaupt zu erkennen – und dafür die strukturelle Basis zu schaffen: transparente Entscheidungskriterien, solide Daten zur Messung und Menschen mit am Tisch, die über ersthafte Datenkompetenz verfügen. Hoffen wir, dass Deutschland (und die nächste Bundesregierung) diesen Schuss gehört haben.