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Wahlumfragen: Big Data Analyse zeigt System im Umbruch

Deutscher Bundestag

Die Umfragewerte der Parteien stehen im Wahlkampf im Mittelpunkt des Interesses. Doch was führt eigentlich zu „guten“ oder „schlechten“ Werten? Auf Grundlage aller Sonntagsfragen seit 2017 haben wir mit Big Data untersucht, wie sich die Parteien gegenseitig beeinflussen und wie sich mehr Interesse an Partei und Kandidat sowie die Auseinandersetzung mit ihren Inhalten auf die Zustimmungswerte auswirken.

Politikerinnen und Politiker behaupten gern, Umfragen interessierten sie nicht. Das muss man nicht für bare Münze nehmen, gerade im Wahlkampf soll diese Aussage offensichtlich Selbstbewusstsein und Gelassenheit demonstrieren. Wäre sie ernst gemeint, müsste man indes grobe Fahrlässigkeit attestieren. Denn richtig gelesen und interpretiert lassen Umfragewerte immer Rückschlüsse zu – beispielsweise darauf, welche Akzente und Instrumente im Wahlkampf nötig sein können, um mehr Wählerstimmen zu erhalten, oder welcher Kandidat beim Publikum bzw. Wähler besonders gut ankommt.

Wir haben im aktuellen Wahlkampf sowie über die gesamte letzte Legislaturperiode hinweg analysiert, wie die Umfragewerte der verschiedenen Parteien untereinander zusammenhängen – schließlich kann man seine Stimme ja immer nur ein- bzw. zweimal vergeben – und wie weit sich das Auf und Ab in den Umfragen daraus erklären lässt, wie oft Menschen bei Google nach der Partei oder dem Führungspersonal suchen, und wie viele Menschen auf die Website der Partei gehen.

Durch diese Big Data Brille haben wir einige spannende Zusammenhänge in der politischen Landschaft aufdecken können. Die prägnantesten stellen wir hier vor:

Keine Erklärung für den Höhenflug der SPD

Mit einem massiven Anstieg haben sich die Sozialdemokraten in den letzten Wochen überraschend an die Spitze geschoben. Noch überraschender ist, dass dieser Trend statistisch nicht zu begründen ist: im Gegensatz zu allen anderen Parteien ist keiner der Faktoren, die wir untersucht haben, in der Lage, den Boom der SPD in einem befriedigenden Ausmaß aufzuklären. Daher empfehlen wir, bei den Umfragewerten der SPD besonders vorsichtig zu sein – sie werden sich womöglich weniger als bei anderen Parteien in Wählerstimmen umsetzen lassen.

Aufgeräumt werden muss vor allem mit dem Narrativ, dass der Aufschwung der SPD allein durch die Beliebtheit des Spitzenkandidaten Olaf Scholz getragen wird. Scholz‘ persönliche Umfragewerte nützen seiner Partei sicherlich, erklären aber nicht ausreichend den Höhenflug. Zugleich zeigen die Daten, dass die SPD nicht in besonderem Maße von der Schwäche der Konkurrenz profitiert – der Zusammenhang mit den Werten z.B. der CDU und der Grünen ist mit erheblichen Schätzfehlern behaftet und erklärt nur einen kleinen Teil der Entwicklung. Und nicht einmal das Interesse an den Inhalten der Partei, das durch die Suchaufrufe im Internet und Besuche der Partei-Website zum Ausdruck kommt, klärt den Aufstieg hinreichend auf.

Anders sah es noch während der Legislaturperiode aus, als die Sozialdemokraten um die 15 Prozent schwankten. Bis zum Beginn des Wahlkampfs profitierte die SPD stärker als alle anderen Parteien davon, wenn sich Menschen auf ihren Websites mit den Inhalten auseinandersetzten. Auch stiegen ihre Werte, wenn die Grünen auf eine schwächere Zustimmung kamen und wenn weniger Menschen nach Annalena Baerbock suchten. Beide Effekte spielen jedoch bei dem enormen Plus gegen Ende des Wahlkampfes nur noch eine untergeordnete Rolle.
Weniger als alle anderen Parteien lässt sich damit der aktuelle Erfolg der SPD aus dem Interesse am Spitzenkandidaten, an den Inhalten oder aus Schwächen der Konkurrenz ableiten – ein Indiz dafür, dass er nicht allzu nachhaltig sein könnte.

AfD profitiert von Armin Laschet – solange Inhalte nicht zählen

Der Hohn, den die AfD gern über die Konkurrenz ausschüttet, speist sich aus ihrem Narrativ, dass „etablierte“ Parteien nur dem Staat dienten, nicht dem Bürger. Angesichts der relativ konstanten Umfragewerte und stabil zweistelligen Ergebnisse insbesondere in den neuen Bundesländern könnte man indes auf den Gedanken kommen, dass die AfD dort ebenfalls bereits etabliert ist.

Doch so einfach ist es nicht. Wähler am rechten Rand hat die Partei zwar an sich gebunden, doch wechselwillige Wähler, die sich mit politischen Inhalten auseinandersetzen, kann die AfD nicht überzeugen. So zeigen unsere Untersuchungen, dass die Bereitschaft, AfD zu wählen, sinkt, wenn man sich auf ihren Websites mit Inhalten auseinandersetzt – und zwar nicht nur im Wahlkampf, sondern auch für die Zeit der Legislaturperiode. Dabei „fliehen“ die vormals Interessierten in eine erstaunliche Richtung: Je mehr Menschen die Website der AfD besuchen oder nach ihr googlen, desto mehr wollen am Ende nicht die AfD wählen, sondern die Linken. Das legt den Schluss nahe, dass die AfD für viele Wähler insbesondere im Osten weiterhin eine Protestpartei ist.

Ihre Wähler rekrutiert sie vor allem aus den Reihen der Union. Die Zahlen belegen: Befinden sich CDU und CSU im Umfragehoch, ist die AfD schwach – wer sich jedoch von der Union abwendet, wendet sich häufiger der AfD zu. Die Nominierung von Armin Laschet hat diese Tendenz verstärkt: Je öfter der Kandidat via Google gesucht wird, desto mehr treibt das die Umfragewerte der AfD nach oben. So ist die Partei nicht nur ein Sammelbecken für den rechten Rand, sondern auch eine Anlaufstelle für Unionswähler, die mit dem Spitzenkandidaten nicht warm werden. Diese Deutung wird weiter davon gestützt, dass Menschen mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit bei der CDU ihr Kreuz machen, wenn sie ihre Websites studieren – aber mit geringerer, wenn sie sich mit dem Kandidaten beschäftigen.

Alternativen gesucht: Wechselwirkungen für Linkspartei und FDP

Dass die Linkspartei profitiert, wenn sich mehr Menschen mit den Inhalten der AfD auseinandersetzen, spricht dafür, dass auch eine Stimme für die Linke für viele Wahlberechtigte eine Protestwahl darstellt. Diese Deutung bekommt Rückenwind dadurch, dass der moderate Co-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch alles andere als ein Zugpferd für seine Partei ist: Je mehr Menschen ihn suchen, desto schlechter fallen die Umfragewerte für die Linken aus.

Doch nicht nur mit der AfD sind die Werte der Linkspartei eng gekoppelt – sie schwanken auch genau umgekehrt zu jenen der FDP. Hierzu passt, dass die Umfragen für sowohl FDP als auch Linkspartei am Stärksten davon abhängen, wie viele Menschen sich für Parteien entscheiden, die noch nicht im Bundestag vertreten sind. Während die Linkspartei am stärksten in diese Richtung verliert, profitiert die FDP von mehr Interesse an kleineren, neuen Parteien – allerdings auch die AfD.

Diese Entwicklungen haben im Wahlkampf eine neue Qualität gewonnen – zuvor, während der Legislatur haben sich die Bewegungen primär innerhalb der klassischen Lager abgespielt. Nun jedoch scheint für viele Wähler die Entscheidung im Vordergrund zu stehen, ihre Stimmen keiner der drei in Führung liegenden Parteien zu geben, also SPD, Union und Grünen.

Die neue Jamaika-Wählerschaft – alte Lager sind durchbrochen

Wenn Wähler der Union den Rücken kehren, erklärt das nicht die stark steigenden Umfragewerte der SPD, wie unsere Studie zeigt. Stärker profitieren andere Parteien von enttäuschten Unions-Anhängern – und zwar nicht nur, wie im letzten Absatz dargestellt, FDP und AfD, sondern auch die Grünen. Umgekehrt steigen die Werte für CDU und CSU stärker als die der SPD an, wenn die Umfragen für Grüne und FDP sinken.

So hat sich zwischen Union, Grünen und FDP ein neues Dreiecksverhältnis entwickelt, das die klassischen Grenzen zwischen den politischen Lagern im Wahlkampf aufweicht – die Wähler „cross-shoppen“ wesentlich stärker als noch während der Legislaturperiode zwischen Schwarz-Gelb, Grün-Schwarz und Schwarz-Grün statt zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün.

Besonders interessant dabei ist, dass die FDP im Wahlkampf signifikant besser abschneidet, wenn mehr Menschen nach Annalena Baerbock suchen. Die Persönlichkeit der Spitzenkandidatin – und die inhaltlichen Positionen oder die Umfrageergebnisse der Grünen – scheint gerade liberale Wähler zu mobilisieren und nach einem Gegengewicht suchen zu lassen. Hier dürfte sich bereits taktisches Wählerverhalten für eine Jamaika-Koalition zeigen – zu Gunsten der FDP.

Die Grünen können nicht von Inhalten profitieren

Der Abstieg der Grünen in den Umfragen in einer Zeit, in der für die meisten Wähler Klima ein zentrales Thema ist, erscheint weniger überraschend, wenn man auf die Zusammenhänge in den Daten blickt: Grüne Zuwächse speisten sich im Wahlkampf statistisch betrachtet primär aus Umfrageschwächen von Union und FDP. Je mehr Menschen hingegen die Website der Partei besuchen und ihr Programm lesen, desto weniger wollen grün wählen.

Stärker hingegen profitieren die Grünen von Suchen nach den Spitzenpersonen Annalena Baerbock und Robert Habeck. Eine starke Verbindung gibt es auch zu Dietmar Bartsch – je mehr Menschen sich über den Spitzenkandidaten der Linken informieren, desto mehr wollen dann lieber Grün wählen. Eine derart starke Abhängigkeit von Personen führt indes auch zu weniger Rückenwind durch das Thema Klima und mehr Verwundbarkeit durch Vorwürfe und Glaubwürdigkeitskrisen gegen grünes Spitzenpersonal.

Zur Methodik unserer Studie

Mit unserem proprietären NEUTRUM Modellfinder haben wir KI-gestützt ermittelt, welche Kombination aus welchen Variablen die Umfrageergebnisse im Zeitverlauf am Besten vorhersagen kann. Für die Umfragewerte haben wir die Ergebnisse sämtlicher großer Umfrageinstitute verwendet, den Mittelwert daraus gezogen und diesen auf Monate aggregiert. Somit sind kurzfristige Schwankungen, z.B. wegen einzelner Schlagzeilen, ebenso ausgeglichen wie die häufigen Differenzen zwischen beispielsweise Forsa und Allensbach. Mittels multivariater Regressionsrechnungen wurden sowohl die Zusammenhänge der Umfragewerte untereinander untersucht als auch, wie weit sich diese aus Big Data Verhaltensindikatoren erklären lassen: einerseits aus den Google-Suchen nach Kandidat/in und Partei – ermittelt aus der Google Ads API –, andererseits aus den Besucherzahlen der Parteiwebsites, ermittelt und plausibilisiert aus einer Triangulation der Ergebnisse aus dem SEO-Tool SE Ranking (Besucherzahlen über Google) und dem Traffic Estimator SimilarWeb (Besucherzahlen insgesamt, Anteil der Besucher über Google). Als Zeiträume haben wir die aktuelle Legislaturperiode herangezogen und unterschieden in die Zeit vor dem Wahlkampf und im Wahlkampf. Letzteren haben wir ab August 2020 angesetzt, weil dort Olaf Scholz als Kanzlerkandidat der SPD nominiert wurde. Untenstehend eine Übersicht der stärksten gefundenen Effekte in der Wahlkampfzeit.

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