Deutschland im Blindflug: die große KI-Studie
Kann KI aufdecken, wie die Deutschen Künstliche Intelligenz wahrnehmen und was sie von ihr erwarten? Wir haben die Herausforderung angenommen – und ein Land im Blindflug entdeckt, das immer abhängiger wird von Technologie, die es nicht versteht.
KI gewinnt als ein zentrales Zukunftsthema stark an Aufmerksamkeit – in der öffentlichen Debatte nimmt es immer mehr Raum ein und immer mehr Menschen beschäftigen sich aktiv mit Künstlicher Intelligenz. Doch welche Aspekte stehen dabei im Vordergrund? Was verbinden die Deutschen mit KI, was treibt sie dazu um und wie entwickelt sich das Interesse? Wir haben es in der bislang wohl größten Studie zum Thema untersucht – mit Hilfe von KI.
Eine KI-Studie mit KI? Die Frage ist, welche Technologie man dafür nutzt!
Künstliche Intelligenz, die selbst untersucht, wie sie wahrgenommen wird? Das hätte noch vor Kurzem nach Science Fiction geklungen, ist aber real – und verrät Einiges über die verschiedenen Arten von KI.
Der Begriff, so zeigt unsere Studie, wird seit dem Siegeszug von ChatGPT fast komplett mit Generative AI verbunden – also Algorithmen, die auf Nutzeranweisungen (sogenannte Prompts) hin Texte oder Bilder generieren. Für Recherchen und Analysen hingegen ist diese Art von KI wenig geeignet, da sie darauf ausgerichtet ist, ansprechende Geschichten zu erzählen – nicht nüchtern die Fakten herauszuarbeiten.
KI-Anwendungen im „Internet of Things“ sind dagegen auf sehr objektive Analyse trainiert – aber auf Basis der immer gleichen, strukturierten Daten… beispielsweise dem Laufgeräusch einer Zugachse, um frühzeitig zu merken, wenn der Zug in die Wartung muss.
Unsere analytische KI bei HASE & IGEL verbindet Aspekte aus beiden Welten: Wie bei Generative AI kann sie sehr viele unterschiedliche, „wilde“ Daten verarbeiten, zum Beispiel aus den spontanen Äußerungen von Menschen. Doch erfindet sie daraus keine klangvollen Geschichten, sondern zeigt objektiv die Muster und Zusammenhänge. Damit ist sie perfekt geeignet, aus dem natürlichen Verhalten vieler Menschen die bestimmenden Themen und Trends zu ermitteln, zumal sie als „Explainable AI“ jederzeit transparent macht, auf Basis welcher Daten und mit welchen Analysen sie zu ihren Schlüssen gelangt.
Im Rahmen unserer Studie haben wir die Language Models unseres NEUTRUM THEMENNAVIGATOR mit allen öffentlichen Beiträgen im deutschsprachigen Netz seit Mai 2022 gefüttert, um daraus die mentale Landkarte der Deutschen zu gewinnen: Was bewegt das Land zu KI, welche Aspekte sind wichtig und wann werden sie relevant? Für die so identifizierten Themen haben wir mit der Machine-Learning-gestützten Trendanalyse unseres NEUTRUM MARKTCHECK sämtliche Google-Suchen der letzten 4 Jahre analysiert um festzustellen, wie sich das Interesse jeweils entwickelt. Über 700.000 Artikel und Posts, über 900.000 Reaktionen darauf und über 35 Millionen Suchen bilden somit die Basis für ein sehr fundiertes Bild.
Dieses Bild fällt für unser Land wenig schmeichelhaft aus.
Ergebnis 1: Ich prompte, also bin ich – Generative AI wird zum Synonym für KI
Der Siegeszug von ChatGPT und Midjourney ist beeindruckend – einer der stärksten Trends, die wir jemals gemessen haben. Angesichts dessen, dass diese Technologien disruptives Potenzial bergen, überrascht das nicht unbedingt. Überraschender ist jedoch, dass diese Anwendungen alles Andere im Thema KI völlig an den Rand drängen – mehr und mehr wird Künstliche Intelligenz gleichgesetzt mit Eingabemasken, in die man Prompts tippt um dann kreative Erzeugnisse zu erhalten.
Dabei ist KI längst in so vielen anderen Bereichen unseres Lebens und Wirtschaftens präsent – von der Produktionssteuerung bis zum Aktienhandel, von der Marktforschung bis zum Smart Home… alles Anwendungen, für die sich die neuen „Killer-Applikationen“ kaum bis gar nicht eignen. Doch dies scheint über Nacht vergessen.
Ergebnis 2: Kopfsprung ins Ungewisse – immer mehr nutzen, immer weniger verstehen
Mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit lassen die Deutschen bei ChatGPT und Co die „Ausprobier-Phase“ hinter sich und versuchen, die Technologie zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen. Von der Vermarktung automatisch erstellter Texte und Bilder über Apps auf Basis von ChatGPT bis zum Ersatz menschlicher Dienstleister durch Algorithmen – Nachfrage, mit Prompts Euro zu machen, wächst enorm. Auch Schüler und Studenten werden kreativ und delegieren ihre Hausaufgaben immer lieber an Kollege Computer.
Während die Begeisterung für eine neue Technologie normalerweise dazu führt, dass sich die Menschen mehr mit ihren Details beschäftigen und gerne mal zu „Fernsehsessel-Experten“ mutieren, sehen wir hier verblüffenderweise das Gegenteil: Seit Open AI boomt und die Nutzung modernster Sprach- und Bildmodelle jedem einfach zugänglich gemacht hat, bricht das Interesse an der Technik dahinter regelrecht ein. Language Models, Machine Learning, neuronale Netze, Predictive Analytics – all das verliert in dem Maße das Interesse, in dem darauf aufbauende Lösungen an Popularität gewinnen.
Das führt zu einer sehr prekären Situation: je mehr die Menschen (diese Art von) KI nutzen, desto weniger wollen sie verstehen, wie das eigentlich funktioniert. Auch die konkreten Risiken, für die man eigentlich kein Experte sein muss, werden ausgeblendet: Wem gehören eigentlich die Texte, Bilder oder Code-Sequenzen, die mir der Algorithmus aus Milliarden Trainingsdaten im Netz baut? Wie darf ich sie überhaupt verwenden? Wie viel verrate ich einem US-Anbieter über mein Geschäftsmodell, wenn ich mir dazu Ideen von seiner KI generieren lasse? Profitieren von meinem Input auch meine Wettbewerber, wenn sie dasselbe Programm nutzen? Und wie erkläre ich meinen Kunden, meinem Aufsichtsrat oder gar einem Gericht, wie ich zu meiner Entscheidung gelangt bin, wenn mir das die Black Box im Netz gar nicht offenlegt? Nicht zuletzt: Was mache ich, wenn OpenAI plötzlich die API schließt oder den Preis vervielfacht?
Ergebnis 3: Auch bei KI droht eine Deindustrialisierung
Dass seit der Einführung von ChatGPT alle viel mehr über KI sprechen, überdeckt eine parallele Entwicklung, die uns Sorgen machen muss: die Nachfrage nach den KI-Anwendungen, die in Betrieben bisher am stärksten eingesetzt werden, schwächt sich ab.
Bereits in der Pandemie kam das Wachstum für viele typische industrielle Anwendungen wie zum Beispiel in der Fertigungsautomation oder im Process Mining weitgehend zum Stillstand. Im Zuge der Lieferkettenprobleme, Energiekrise, Inflation und Stagnation seit Beginn des Ukraine-Krieges geht sie für bisherige Kernbereiche wie Prozessautomatisierung und Predictive Analytics sogar zurück.
Es sieht stark danach aus, dass die Betriebe in der Krise ihre Budgets inzwischen auch bei diesen zentralen Zukunftstechnologien reduzieren und überdies ihre Aufmerksamkeit in den letzten Jahren auch gänzlich von existenzbedrohlichen Themen wie Lockdowns, Energiepreisexplosion und Lieferproblemen eingenommen war. So drohen sie aber international den Anschluss zu verlieren – umso mehr, als dass anders als bei den bisherigen Anwendungen von GPT und Co. die Nutzung in der Produktions-, Prozess- und Logistikoptimierung unmittelbar mehr Wertschöpfung im eigenen Betrieb bringt.
Ergebnis 4: Große Naivität im öffentlichen Diskurs
KI dominiert die Schlagzeilen und immer mehr unserer Gespräche. Sie ist „talk of the town”. Doch Hype und Kompetenz gehen selten Hand in Hand: Immer stärker wird Künstliche Intelligenz gleichermaßen überfrachtet mit Heilserwartungen von „wird für uns den Klimawandel besiegen“ bis hin zu „wird die Welt gerechter machen“ und Untergangsszenarien a la „wird uns alle versklaven“ oder gleich „läutet das Ende der Menschheit ein“. Das klingt mehr nach Religion als nach Meinungsbildung. Und dementsprechend dünn sieht es aus, wenn man in die Debatte tiefer hineinzoomen möchte: denn es gibt nichts zu zoomen – wie KI konkret Heil oder Verderben bringen soll, bleibt in der öffentlichen Auseinandersetzung überaus vage.
Und während bei insgesamt durchaus positiver Einstellung gegenüber Künstlicher Intelligenz die Sorgen vor Risiken der Technologie deutlich an Dynamik gewinnen, beschäftigt sich kaum jemand mit den direkt greifbaren Aspekten wie dem möglichen Wegfall von Arbeitsplätzen oder der zunehmenden Abhängigkeit von Systemen aus den USA.
Aufwachen! Deutschland muss seinen Blindflug beenden
Treten wir ein paar Schritte zurück und blicken auf diese Ergebnisse im Ganzen – dann sehen wir ein Land, dass immer euphorischer eine Technologie nutzt, die es bestenfalls in groben Zügen erfasst hat, die es immer weniger verstehen möchte und in die es weniger investiert. Geschäftsmodelle und Prozesse auf etwas aufbauen, das man nicht beherrscht und das in einer privatwirtschaftlichen Cloud im Ausland liegt – was könnte da schon schiefgehen?
Vom Buchdruck bis zum Automobil kamen viele der revolutionären Erfindungen aus Deutschland – weil sich hier Menschen früher und tiefer als anderswo in neue Technologien hineingetüftelt haben und weil dies auf einen fruchtbaren Boden fiel, in dem viele Menschen Lust hatten, solche Innovationen wirklich zu verstehen und daran mitzuarbeiten, während gerade Unternehmen international Respekt erwarben für die „deutsche Gründlichkeit“, mit der sie auf Kompetenz und Solidität in der Umsetzung achteten.
Wo stünden wir heute, wenn die Deutschen den bisherigen technologischen Revolutionen ebenso naiv, ebenso stark als oberflächliche Konsumenten begegnet wären? Der Spiegel, den unsere KI-Analyse dem Land vorhält, lässt sich zusammenfassen zu: Wir staunen über den tollen Zug, der an uns vorüberfährt – und begnügen uns damit, womöglich noch darauf aufzuspringen.