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Erforscht: Was macht uns in der Pandemie psychisch krank?

Studie psychische Gesundheit in der Pandemie

Jedes Jahr zur Weihnachtszeit erreicht nicht nur der Konsum von Karpfen und Glühwein seinen Höhepunkt, sondern auch die Zahl der Menschen, die wegen psychischer Erkrankungen Hilfe suchen. Dieses Jahr liegt sie um 22% höher als vor der Pandemie. Das bedeutet sehr viel Leid – und jährliche Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe. Wir haben erforscht, welche psychischen Störungen zunehmen – und was dazu führt. Die Ergebnisse der Studie mit dem Institut für Verhaltensökonomie überraschen.

Was uns Online-Suchen über unsere Gesundheit verraten

Wie kann man messen, wie sich psychische Krankheiten in einer Gesellschaft entwickeln, ohne Monate, wenn nicht Jahre auf die Auswertungen von Ärzteverbänden und Krankenkassen zu warten? Die Digitalisierung hilft uns hierbei! Denn für Menschen, die Hilfe und Therapie suchen, ist das Internet zur wichtigsten Informationsquelle für Gesundheitsinformationen geworden. Der erste Griff geht dabei immer zur Suche bei Google. Daher hat es sich in den letzten Jahren etabliert – und bewährt – die Entwicklung entsprechender Suchanfragen zu untersuchen, um Patientenzahlen vorherzusagen. Während Google Trends für solche Zwecke sehr unzuverlässig ist (ein Grund, wieso Google mit „Flu Trends“ gescheitert ist), sind die Daten in Google Ads erwiesener Maßen wesentlich robuster.

In der bisher größten und systematischsten Untersuchung dieser Art haben wir zunächst ermittelt, was Menschen bei Google suchen, die am Ende auf den Online-Angeboten von Ärzten, Therapieanbietern und Coaches rund um psychische Erkrankungen landen. Im Austausch mit Experten entstand so ein System der 553 wichtigsten Suchanfragen. Für die Zeit vom 1.1.2019 bis 30.6.2021 haben wir über 12 Millionen individuelle Suchen dazu mit der KI-gestützten Methodik unseres MARKTCHECKs analysiert. Die intelligenten Algorithmen trennen dabei säuberlich übliche Einflüsse von Jahreszeiten und Langfristentwicklungen von aktuellen Veränderungen in der Pandemie (ARIMA-Modelle nach LOESS-Dekomposition).

In der Pandemie verfällt die psychische Gesundheit rapide

Ohne melodramatisch zu wirken: die Ergebnisse haben uns geschockt. Alle Bereiche psychischer Störungen haben so stark zugenommen, wie es in den letzten Jahrzehnten ohne Beispiel sein dürfte. Insbesondere zeigen die Daten, wie die Zahl der Hilfesuchenden in besonders „brenzligen“ Situationen (z.B. Lockdown) sehr schnell steigt, jedoch bei einer Entspannung der Lage (z.B. im Sommer) nur langsam wieder sinkt. So hinterlässt jede Hiobsbotschaft, jede Welle ein krankeres Land.

Den zahlenmäßig größten Sprung machen dabei Angststörungen. Neben unspezifischen Ängsten und Panikattacken haben vor allem soziale Phobien massiv zugelegt. Doch unter den wachstumsstärksten Ängsten ist auch die Angst vor Spritzen – sie steigt doppelt so schnell wie die Angst vor Krankheit. Die psychische Gesundheit zu ignorieren hat also bisher auch der Impfkampagne geschadet.

Das stärkste prozentuale Wachstum – über 40% mehr! – weisen Beziehungsstörungen auf: wo das Leben fast nur noch in den eigenen vier Wänden stattfindet und soziale Kontakte minimiert werden, eskalieren toxische Beziehungen und sprießen die Co-Abhänigigkeiten.

Doch auch Störungen im beruflichen Bereich und depressive Verstimmungen sind wesentlich zahlreicher geworden. Pikant ist dabei mit Blick auf die Arbeitswelt, dass Burnout-Symptome immer dann besonders in die Höhe geschossen sind, wenn die Arbeitnehmer nach längeren Home Office / Lockdown-Phasen wieder ins Büro zurückkehren sollten.

Die drastische Zunahme psychischer Leiden muss man unbedingt ernst nehmen: entsprechende Erkrankungen sind, wenn sie erst einmal voll ausgeprägt sind, sehr langwierig zu behandeln und führen bei Betroffenen im Schnitt zu einem 10 Jahre kürzeren Leben. Sowohl im Bezug auf die Lebenserwartung als auch im Bezug auf die volkswirtschaftlichen Schäden drohen die psychischen Erkrankungen im Zuge der Pandemie bereits die Folgen von Corona selbst in den Schatten zu stellen.

Medien machen uns kranker als Lockdowns

Eine solche Krise zu erkennen weckt den dringenden Wunsch, sie zu verstehen. Mit unseren KI-gestützten Analysetools wie dem MODELLFINDER haben wir daher untersucht (in multivariaten Regressionsanalysen entlang der Zeitreihe, mit unterschiedlichen Delays und Machine Learning basierter Modellierung), woraus sich dieser starke Anstieg erklären lässt.

Als Hauptverdächtiger wird in diesem Zusammenhang natürlich der Lockdown gehandelt. Durch unsere Untersuchung, welche Corona-Maßnahmen tatsächlich wirken, verfügten wir noch über eine detaillierte Datenbank, wann wo welche Maßnahme galt.

Die Resultate verblüfften insofern, als dass die Effekte deutlich geringer waren als allgemein erwartet. So haben die sozial besonders restriktiven Lockdownmaßnahmen Angststörungen und depressive Verstimmungen signifikant ansteigen lassen, doch lässt sich damit nur ein Drittel dieses Anstiegs erkären. Gewichtiger haben sich Veranstaltungsverbote und Maskenpflicht auf psychische Leiden in allen Bereichen ausgewirkt. Doch auch hier kann man weniger als die Hälfte des Anstieges auf die Maßnahmen selbst zurückführen.

Viel stärker ist der Einfluss der Kommunikation über die Pandemie. Um diesen zu erforschen, haben wir alle digitalen Beiträge in journalistischen und sozialen Medien untersucht, die seit Beginn der Pandemie mindestens 100.000 Leser oder 100 Reaktionen erzielt haben. Die knapp 8 Millionen Posts und Artikel wurden vom Media Monitoring Experten Talkwalker erhoben, zusammen mit Reichweiten, Reaktionen und den im Text enthaltenen Emotionen (wie sich solche Daten nutzen lassen, um die Dynamik eines Themas in der Tiefe zu verstehen, zeigt unser THEMENNAVIGATOR).

Die Analyse zeigt deutlich, dass die Negativdynamik in Social Media und Journalismus psychische Störungen insgesamt um zwei Drittel stärker in die Höhe treibt als die folgenschwersten Lockdown-Effekte. Ganz vorne stehen dabei die Aufschaukelung negativer Reaktionen in Sozialen Medien. Es folgt der schädliche Effekt einer reichweitenstarken Presse im Dauercoronamodus – insbesondere, wenn die Berichte stark emotionalisieren und viel Wut enthalten. Die Kombination dieser Elemente – Social Media Shitstorms und Corona-Schlagzeilen – erklärt zusammen vier Fünftel des Anstiegs psychischer Leiden.

Was nun? Kühler Kopf und gute Prävention!

Diese Ergebnisse dürfen uns nicht kalt lassen und gehen Alle an! Wir müssen dringend einer weiteren Aufschaukelung psychischer Krankheiten entgegenwirken.

Dies bedeutet einerseits, deutlich nüchterner und sachlicher zu kommunizieren – für Jeden von uns. Politiker sollten sich auf gesicherte Fakten besinnen, Spekulationen vermeiden und auch Gegner mit Respekt behandeln. Journalisten sollten sich an die Trennung von Bericht und Meinung erinnern und dem Drang zum großen Reißer tapfer widerstehen. Und ein Jeder sollte seine Social Media Nutzung auf den Prüfstein stellen – das Hochschaukeln in Filterblasen macht uns buchstäblich verrückt.

Andererseits müssen kurzfristig niederschwellige Präventions- und Hilfsangebote auf- und ausgebaut werden. Von psychischen Ersthelfern im Betrieb (analog zu den „normalen“ Ersthelfern ein Erfolgsrezept in sehr vielen Ländern, bei dem Deutschland noch hinter einem Kleinstaat wie Malta liegt) bis zu mehr Angeboten von Krankenkassen und Rentenversicherungen, mit denen Betroffene, die noch keinen Arzttermin und Therapieplatz haben, bereits in Eigenregie erste Schritte gehen können. Geschwindigkeit schlägt hier die deutsche Gründlichkeit: ja, wir brauchen dringend mehr Therapeuten. Doch wir haben nicht die Zeit, darauf zu warten, bevor wir etwas unternehmen, um diesem bestürzend schnelle, starken Zuwachs psychischer Leiden entgegenzuwirken.

Das gebietet nicht nur die christliche Nächstenliebe zur Weihnachtszeit.

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